Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Kontakt für die Medien

Tom Leonhardt
Wissenschaftsredakteur
Telefon: +49 345 55-21438

Ansprechpartner*in zu dieser Pressemitteilung

Prof. Dr. Helge Bruelheide
Institut für Biologie der MLU
Telefon: +49 345 55-26222

Kontakt

Manuela Bank-Zillmann

Telefon: +49 345 55-21004
Telefax: +49 345 55-27404

Universitätsplatz 8/9
06108 Halle

Weiteres

Login für Redakteure





Ökosysteme: Neue Studie hinterfragt gängige Annahme zur biologischen Vielfalt

Nummer 147/2024 vom 03. Dezember 2024
Pflanzenarten können innerhalb eines Ökosystems ähnliche Funktionen erfüllen, unabhängig davon, wie eng verwandt sie miteinander sind. Zu diesem überraschenden Schluss kommt eine weltweite Auswertung von rund 1,7 Millionen Datensätzen zu Pflanzengemeinschaften. Geleitet wurde sie von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU) und der Universität Bologna. Bislang ging man in der Ökologie vom Gegenteil aus. Die Studie erschien in "Nature Ecology & Evolution" und bietet Hinweise für den Naturschutz.

Eigentlich scheint die Sache recht eindeutig: Wenn neue Pflanzenarten in einem Ökosystem Fuß fassen wollen, müssen sie mit den Bewohnern um Licht, Nährstoffe und Wasser konkurrieren. Am besten ist es also, wenn sich verschiedene Arten nicht in die Quere kommen, denn so können sie verschiedene Funktionen in diesem Ökosystem erfüllen. Wenn die Pflanzen unterschiedliche Funktionen übernehmen, sollte sich das auch darin widerspiegeln, dass die Arten in dem Ökosystem eher weiter entfernt verwandt sind. "Deshalb vermutete man bisher einen positiven Zusammenhang zwischen funktionellen Pflanzenmerkmalen, wie Wuchshöhe oder Beschaffenheit der Blätter, der Pflanzenarten eines Ökosystems und ihrem Verwandtschaftsgrad: Je entfernter verwandt die Arten in dem Ökosystem sind, desto unterschiedlicher sollten auch ihre funktionellen Merkmale sein", sagt der Geobotaniker Prof. Dr. Helge Bruelheide von der MLU. Ein Beispiel dafür sind Mischwälder: Hier wachsen immergrüne Nadelbaumarten, deren Vorfahren schon vor über 300 Millionen Jahren lebten. In direkter Nähe leben Laubbaumarten, deren direkte Vorfahren nicht einmal halb so alt sind. In Bodennähe finden sich zum Beispiel auch Farne, deren Vorfahren noch älter sind. "In solchen Wäldern mit einer hohen phylogenetischen, also stammesgeschichtlichen, Diversität würde man nun auch eine hohe funktionelle Diversität erwarten", so Bruelheide. Allerdings trifft dieser Zusammenhang wohl für Mischwälder in Nordeuropa zu, aber nicht für die Mehrzahl der Ökosysteme an Land, wie die neue Studie zeigt.

Das internationale Team analysierte 1,7 Millionen Datensätze aus der weltweit einzigartigen Vegetationsdatenbank "sPlot". Diese ist am Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig angesiedelt. Sie enthält Vegetationsaufnahmen von Pflanzen aus 114 Ländern, von allen Klimazonen der Erde. Diese Daten kombinierten die Forschenden mit einer globalen Phylogenie aller Pflanzenarten und der weltweit größten Datenbank für Pflanzenmerkmale "TRY". "Das Ergebnis war für uns komplett überraschend: Es gibt keinen positiven Zusammenhang zwischen funktioneller und phylogenetischer Diversität. Oftmals sind beide sogar negativ miteinander korreliert", sagt Georg Hähn von der Universität Bologna. Hähn begann die Arbeit an der Studie im Rahmen seines Masterstudiums an der MLU.

Die Ergebnisse im Detail: Über die Hälfte der untersuchten Vegetationsaufnahmen hatte eine hohe funktionale Vielfalt, aber nur eine geringe stammesgeschichtliche Vielfalt. Nur in etwa 30 Prozent waren beide Vielfaltstypen entweder gleichzeitig hoch oder niedrig. Besonders überraschend war, dass mehr als die Hälfte der Flächen mehr funktionale als phylogenetische Vielfalt zeigten. "Unsere Untersuchung zeigt, dass Pflanzen in vielen Ökosystemen verschiedene Aufgaben erfüllen, obwohl sie eng miteinander verwandt sind. Das hat wichtige Folgen für den Naturschutz", sagt Helge Bruelheide. Ein Ökosystem könnte demnach anfällig für Veränderungen durch den Klimawandel sein, wenn es entweder nicht genügend funktionell verschiedene Arten oder evolutionäre Vielfalt gibt. "Ein effektiver Umweltschutz kann deshalb nicht nur die artenreichsten Flächen unter Schutz stellen. Stattdessen müssen sowohl funktionelle als auch phylogenetische Vielfalt betrachtet werden", so Bruelheide abschließend.

Die Studie wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert.

Studie: Hähn G et al. Global decoupling of functional and phylogenetic diversity in plant communities. Nature Ecology & Evolution (2024) doi: 10.1038/s41559-024-02589-0

 

 

Zum Seitenanfang